Die Fabel vom Hasen und der Schnecke
von Armin Bertges
Der Hase befand sich im Wettstreit mit der Schnecke, wer mehr von der Welt sieht.
„Du bist so langsam. Was siehst du schon von der Welt“, befand der Hase.
„Ach, mir reicht es“, entgegnete die Schnecke. „Ich sehe schon genug.“
„Das kann gar nicht sein. Ich will dir von der Welt berichten“, sagte der Hase und lief so schnell und weit wie er konnte. Dann kehrte er zurück und berichtete der Schnecke von der Welt der großen Zweibeiner. Die bewegten sich in bunten Metallgegenkästen fort. Manchmal auf einem langen Band, dass die Landschaft verschandelte. Die großen Zweibeiner nannten das Autobahn.
Das konnte die Schnecke kaum glauben.
„Und du, was hast du heute gemacht?“ fragte der Hase die Schnecke.
„Ich habe einen Marienkäfer betrachtet“, sagte die Schnecke. „Er saß auf einer Blume und hob den rechten Flügel, um sich zu putzen….“.
„Und dann“ fragte der Hase. „und dann…“
„Und dann“ sagte die Schnecke, „ hob er den linken Flügel, um sich zu putzen.“
„Und dann“ fragte der Hase. „und dann…“
„Das war es“, sagte die Schnecke. „Ich habe heute den Marienkäfer betrachtet, wie er sich putzte.“
„Das nennst du, die Welt sehen“, entrüstete sich der Hase.
„Ja“, sagte die Schnecke, „denn weißt du, der Marienkäfer war so anmutig, das mir das Herz auf ging.“
Das konnte der Hase nicht verstehen und so lief er immer weitere Strecken und berichtete von immer seltsameren Begebenheiten, damit die Schnecke die Welt begreife
Eines Tages erzählte der Hase wieder von merkwürdigen Dingen aus der Welt der großen Zweibeiner. So wohnten sie angeblich umgeben von Stein und nannten das Haus. Und abends ging dort Licht an. Die Schnecke wunderte sich, wo die Zweibeiner die Unmengen von Glühwürmchen her bekamen, um ihre Häuser zu beleuchten, fand aber das das nicht ihr Problem sei.
„Was hast du denn heute gemacht“, fragte der Hase.
„Oh, ich habe eine Rose betrachtet“, berichtete die Schnecke. „Der Blütenkelch war heute Morgen noch halb geschlossen und da heute die Sonne schien, ging er langsam auf. Da entströmte der Rose so ein wohliger Geruch….“
„Ja, ich weiß“, sagte er Hase, „da ging dir das Herz auf.“
„Genau“, bemerkte die Schnecke und betrachtete den Hasen wohlwollend. Sollte er etwa lernen, zu verstehen.
Mitnichten!!
„Das nenne ich nicht die Welt sehen“ rief der Hase anklagend aus, drehte sich um und wollte wieder in die Welt hinaus laufen.
Da fiel er über einen kleinen Stein, der am Wegesrand lag, und schlug so heftig mit dem Knie auf, dass er bewegungslos da lag.
Langsam kroch die Schnecke am verletzten Hasen vorbei und bemerkte nur: „Diesen Stein hätte ich wohl gesehen.“ Da begriff der Hase langsam, worum es der Schnecke ging.
Denn merke: die Schnecke hat die Langsamkeit nicht als Schicksal zugeteilt bekommen, sondern sie hat die Langsamkeit gewählt, damit sie mehr Zeit hat die Welt ein wenig genauer zu betrachten.